Augenzeugenberichte
Kinderlandverschickung 1940-1941
Kinder-Land-Verschickung (KLV)
vom 30. Oktober 1940 – 13. September 1941.
Lokstedter, Niendorfer und Schnelsener Schüler in Babylon-Tschechoslowakei.
Im Herbst 1940 wurde zuerst davon gemunkelt, dann
verstärkten sich die Gerüchte, und zuletzt wurde es offiziell
bekannt gegeben: Die Kinder sollten aus den bombengefährdeten
Gebiet evakuiert werden. Ich erinnere mich noch an die ersten Berichte,
dass die ganze Niendorfer Schule nach Bayern verlagert werden solle,
genau wie alle anderen Hamburger Schulen. Die Eltern konnten es
gar nicht glauben – das heißt, in den meisten Fällen
waren die Mütter davon betroffen, denn die Väter waren
Soldat oder, wie mein Vater, kriegsverpflichtet-, aber dann wurde
es sehr schnell ernst, und die Evakuierung der Hamburger Schulkinder
lief in einem Zeitraum von vier Wochen ab. Den Eltern wurde mitgeteilt,
dass die Gefährdung ihrer Kinder durch englische Bomber täglich
zunähme, und dass der „Führer“ angeordnet
habe, dass alle deutschen Kinder aus den Großstädten
nach Süddeutschland oder Österreich, ins Sudetenland oder
auch Ungarn in Sicherheit gebracht werden sollten. Es war zunächst
nur von einem Zeitraum von vier bis sechs Wochen die Rede, denn
bis dahin hoffte man, den Krieg beendet zu haben. Es wurde den Eltern
vor allen Dingen klargemacht, welche Verantwortung sie übernähmen,
wenn sie die Kinder in den Großstädten ließen,
und dass in Hamburg keine Gewähr mehr für einen normalen
Schulunterricht gegeben sei.
Ich war mit meinen 12 ½ Jahren begeistert
von der Idee, in einer Art Internat zu leben. Ich hatte ein sehr
schönes Elternhaus, aber diese Tatsache war für mich eine
Selbstverständlichkeit. Von unglücklichen Kindern, geschiedenen
Ehen, Problemen in Familien, hatte ich bis dahin wenig Ahnung. Ich
hatte in vielen Büchern von so fröhlichen Internatserlebnissen
gelesen, dass ich mir nichts Besseres denken konnte, als mit meinen
Klassenkameradinnen einige Wochen zusammen zu leben. Verstärkt
wurde dieser Wunsch sicher auch dadurch, dass wir täglich im
Unterbewusstsein im Gemeinschaftssinn geschult wurden: Die „Klassengemeinschaft“,
die „Volksgemeinschaft“, die Schicksalsgemeinschaft“,
die „Notgemeinschaft“ etc. waren Schlagworte, die wir
ständig hörten. Ich freute mich riesig auf die Fahrt nach
„Babylon“, ein Name der mir durch die Bibel vertraut
war. Wir hörten bald, dass es ein Ort im Sudetenland sei, im
Böhmerwald, in der früheren Tschechoslowakei.
Rudolf, mein Bruder, 10 ½ Jahre alt, der
die gleiche Schule besuchte wie ich, war von dieser Reise ebenso
betroffen. Er hatte sich durch meine Begeisterung anstecken lassen
und fuhr ganz frohgemut mit.
Abfahrt am 30. Okt. 1940 in Richtung Babylon.
Am 30. Oktober verließ der Sonderzug den
Bahnhof Altona, und die Reise dauerte 22 Stunden. Ich weiß
das so genau, weil wir danach einen Aufsatz mit dem Titel: „Meine
erste Reise über 22 Stunden“ schreiben mussten, womit
unsere Lehrer zur damaligen Zeit voraussetzten, dass noch keiner
von uns bis dahin eine längere Reise unternommen hatte.
Eine Identifizierungskarte für die Hin- und
Rückfahrt nach Babylon.
An diese Fahrt habe ich sehr lebhafte Erinnerungen.
Bis dahin hatte ich meine Klassenkameradinnen immer nur für
wenige Stunden in der Schule erlebt, privat eigentlich nur in der
Pause. Ich war erst seit April in dieser Schule (unterbrochen durch
die großen Ferien). Nun saßen wir in einem Abteil zusammen
und konnten stundenlang miteinander reden. Man sagte mir während
der Fahrt, dass man mich sehr skeptisch beobachtet habe in dieser
Zeit: einmal kam ich nicht aus Niendorf (meine Eltern hatten das
Haus erst im Herbst 1938 gebaut), und besonders, weil ich katholisch
war. Diese Tatsache hat mir sehr zu schaffen gemacht: wie gern wollte
ich so sein wie alle anderen. (In Hamburg gab es zu dieser Zeit
nur 8 % Katholiken, und mein Bruder Rudolf und ich waren damals
die einzigen in der ganzen Schule.)
In der Mittelschule in Niendorf, in die ich nach Auflösung
der katholischen Ursukinen-Schule ab April 1940 wechselte, wurden
Mädchen und Jungen gemeinsam unterrichtet.
Das war in Hamburg zu der Zeit ungewöhnlich und nur dadurch
erklärbar, dass Niendorf bis 1937 nicht zu Hamburg gehörte,
und man diese Schulform der Mittelschule mit der Koedukation von
Mädchen und Jungen auch nach der Eingemeindung in Groß-Hamburg
beibehalten hatte.
Wenn wir Mädchen und Jungen auch in einer gemeinsamen Klasse
unterrichtet wurden, so war es doch selbstverständlich, dass
wir während der Reise und auch später bei der Unterbringung
in Babylon getrennt waren. Ich kümmerte mich während der
langen Fahrt natürlich darum, wie es meinem Bruder Rudolf erging,
und ich erinnere mich, dass wir in dem endlos langen Zug guckten,
wie es „unseren Jungs“ –d.h. den Jungen aus unserer
Klasse (Ausdruck unserer Lehrerin, Frl. Solwig) – erging.
BABYLON war damals ein kleiner Ort in der Tschechoslowakei, nahe
der deutschen Grenze, der ca. 100 Einwohner zählte. Babylon
liegt mitten im Böhmerwald, in einer wunderschönen Gegend,
dem Harz oder Schwarzwald vergleichbar. Er verdankt seinen Ruf als
„Badeort“ einem Natursee, und es gab dadurch viele Hotels
und Pensionen.
Das Hotel Belvedere in Babylon
Wir wussten von alledem gar nichts, als wir am
31. Oktober 1940, nachdem der lange Zug der KLV, der Kinder-Land-Verschickung,
überall aufgeteilt, schließlich in Babylon eintraf. Alle
großen Hotels: Hotel Prag, Hotel Magda, Hotel Belvedere waren
für die Evakuierung der deutschen Kinder beschlagnahmt worden.
Auch kleinere Hotels und Pensionen waren mit deutschen Kindern belegt,
so dass in jenen Jahren sicher mehr als 300 deutsche Kinder in Babylon
lebten.
Es gab nur eine deutsche Familie, den Kaufmann, in der Mitte des
Ortes. Alle anderen Einwohner waren Tschechen, mit denen wir keinerlei
Kontakt hatten. Erst viele Jahre später wurde mir bewusst,
wie die Menschen dort es wohl empfunden haben mussten, als ständig
deutsche Kinder durch ihren Ort zogen. Wobei das „Durch-den-Ort-ziehen“
wörtlich zu nehmen ist: Auf dem Weg zur Schule oder in der
Freizeit gingen wir in kleineren Gruppen, aber oft zogen wir singend-
dann in Uniform mit der Fahne voran- durch Babylon.
Eine singende Mädchengruppe zieht durch den
Ort Babylon.
Die Hotels waren auf reinen Sommerbetrieb eingerichtet
und daraus ergab sich- da es November war- die ersten Schwierigkeiten,
denn die Zimmer waren nicht beheizbar. Die ganze Aktion der Evakuierung
der Kinder aus den Großstädten war völlig überstürzt
angelaufen, und die Probleme häuften sich. In den Zimmern wurden
Kanonen-Öfen aufgestellt, die wir selbst heizen mussten.
Wir Mädchen waren im Hotel Belvedere untergebracht, die Jungen
unserer Schule im Hotel Prag. Vier Klassen waren von dieser Kinderlandverschickung
betroffen, ca. 60 Jungen und 60 Mädchen. Rudolf war in der
Klasse 1, ich in der Klasse 3. Der Schulunterricht fand nach wie
vor für uns gemeinsam statt, und zwar im Hotel Prag, auch im
Hotel Magda, das direkt neben dem Hotel Prag lag. Aus unserer Niendorfer
Schule waren vier Lehrer mitgefahren. Ich nehme an, dass es so eine
Art „Zwangsverschickung“ für die Lehrer war. Viele
andere Lehrer waren Soldat, viele Lehrerinnen mussten in den neuen
deutschen Ostgebieten Dienst tun, so dass unseren Lehrern sicher
keine andere Wahl blieb, als die Kinderlandverschickung mitzumachen.
Das Problem lag darin, dass die Lehrer bis dahin für den Schulunterricht
zuständig gewesen waren, und nun sollten sie plötzlich
in der KLV eine Art Internat führen.
Unser Schulleiter, Herr Reese, war im Hotel Prag, wir waren mit
drei Lehrerinnen aus der Niendorfer Schule im Hotel Belvedere. Von
den drei Lehrerinnen waren zwei unverheiratet, sie hatten von Familienproblemen
wenig Ahnung, und die jüngste, Frau Ebmeyer, war zwar verheiratet,
aber ihr Mann war irgendwo in Afrika interniert, und sie war sicher
mit ihren Gedanken und Interessen oft mehr bei ihm als bei uns.
Keine von ihnen war „mütterlich“ im Umgang mit
uns.
Zurück zu den Problemen, die sich zunächst ergaben: in
die Doppelzimmer des Hotels war noch ein drittes Bett gestellt worden,
und wir durften die Zimmer mit den Freundinnen aus unserer Klasse
teilen. Es ergab sich aber sehr schnell, dass die Mädchen aus
der ersten Klasse, 10 Jahre alt, allein nicht zurechtkamen.
Sie sollten- wie wir- für Ordnung sorgen, die Zimmer saubermachen
und auch die Kanonenöfen heizen. So wurde angeordnet, dass
immer eine ältere Schülerin sich um eine oder zwei jüngere
kümmern und mit diesen das Zimmer teilen musste.
Darüber waren wir zwar sehr erbost, aber natürlich nur,
wenn wir unter uns waren, denn den Anordnungen der „Lagerleitung“
hatten wir unbedingt zu folgen. Das Gehorchen waren wir von klein
an gewöhnt, und der dauernde Hinweis auf unsere armen Soldaten
an der Front, ließ keinerlei Kritik zu.
Nach einiger Zeit ergab es sich, dass wir alle keine saubere Wäsche
mehr hatten. War diese Evakuierung zunächst nur für einige
Wochen gedacht, so sprach jetzt niemand mehr davon, und es sah so
aus, als ob wir noch lange Zeit in Babylon bleiben würden.
So mussten sich unsere Lehrerinnen um eine Wäscherei kümmern,
die unsere Sachen abholte und wusch. Vorher musste aber alles mit
Namen gezeichnet werden- und das von 10-14 jährigen Kindern.
In jedem Zimmer befand sich ein Waschbecken (mit kaltem Wasser),
aber nach einiger Zeit war eine gründliche Reinigung (mit Haare
waschen) notwendig. So fuhren wir ungefähr alle 4 Wochen mit
der ganzen Lagermannschaft per Bummelzug nach Taus (Domaslice),
der nächst größeren Stadt zum Baden. Das war jedes
Mal ein Festtag.
Womit sich unsere Lehrerinnen überhaupt nicht befasst hatten,
war unsere Ernährung. Seit Anfang des Krieges gab es Lebensmittelkarten,
denn die Lebensmittel waren rationiert, aber Kinder hatten damals
recht gute Zuteilung, und die KLV-Lager bekamen noch Sonderkontingente.
Das Essen in unserem Hotel Belvedere war jedoch schlecht.
Der Besitzer konnte das Hotel weiterhin privat führen- im Gegensatz
zum Hotel Prag, das ein NSV- Betrieb, also staatlich war- und wirtschaftete
sicher gut in seine Tasche. Die Ernährung wurde eigentlich
erst besser, als meine Mutter im Januar in Babylon auftauchte und
als- unbezahlte- Hilfe dort blieb. Über meine Gefühle
schreibe ich später: Jetzt nur die Frage der Ernährung
oder der Lebensmittelzuteilung. Meine Mutter stellte sofort fest,
dass jedem Kind pro Tag ein halber Liter Milch zustand, eine bestimmte
Menge an Butter, Fleisch, Gemüse, Obst etc., und dass wir diese
Lebensmittel nicht erhielten. Sie musste das sehr vorsichtig anbringen,
denn man hätte sie ja sofort wieder nach Hause schicken können:
doch das Essen wurde nun merklich besser.
Ich habe die negativen Dinge damals gar nicht richtig wahrgenommen.
Zwar froren wir die erste Zeit ohne Öfen in den Schlafzimmern,
aber tagsüber waren wir unten im Tagesraum. Dass das Essen
bei uns viel schlechter war als bei unseren Klassenkameraden im
Hotel Prag, merkten wir, und „Unsre Jungs“ versorgten
uns oft morgens, wenn wir zum Unterricht kamen, mit Haferflockensuppe
und dicken Butterbroten, aber das dämpfte nicht das Hochgefühl,
das ich empfand, in dieser Gemeinschaft zu leben.
Man kann das sicher nur nachempfinden, wenn man jetzt von Internatserlebnissen
hört und liest. Mir bedeutete die Klassengemeinschaft damals
alles, und zudem waren wir eine Klasse, die wie Pech und Schwefel
zusammenhielt. Ich war jetzt voll angenommen, hatte viele Freundinnen
und fühlte mich in Babylon sehr wohl.
Außer den drei Lehrerinnen, die den Schulunterricht am Vormittag
erteilten, betreuten uns am Nachmittag zwei oder drei Jungmädelführerinnen
im Alter von 16-18 Jahren. Sie waren vom Pflichtjahr oder Arbeitsdienst
für diese Zeit freigestellt worden und hatten sich freiwillig
gemeldet. Diese Führerinnen wechselten während der 11
Monate, die wir in Babylon waren, mehrfach, aber sie waren zum größten
Teil begeisterte Führerinnen mit vielen Ideen. Das Singen,
Basteln, Tanzen, Theaterspielen, Werken etc. habe ich in bester
Erinnerung. Am Nachmittag- nach der „Schularbeitenstunde“,
in der jeder jedem half,- wurden so viele Möglichkeiten geboten,
etwas Interessantes zu tun, dass ich nie Langeweile empfunden habe.
Dabei ist mir meine Mentalität zustattengekommen, da ich gern
mit vielen Menschen zusammen bin. Leider ging es nicht allen so.
Damit komme ich auf das Problem der Heimwehkranken, der Stillen
und der Kinder, die sich in der großen Gemeinschaft einfach
nicht wohlfühlten. Sie haben in der KLV sehr gelitten, denn
zu dieser zeit galt das Heroische. Wer Heimweh hatte, war ein „Schwächling“,
und wir sollten und wollten alle „Helden“ sein.
Ich erlebte das ganz hautnah bei meinem Bruder Rudolf. Er war mit
seinen 10 Jahren auf jeden Fall zu jung für dieses Lagerleben
und war als sensibles Kind dem Umgangston in seinem Zimmer nicht
gewachsen. Im Gegensatz zu unserem Hotel mit Drei-Bett-Zimmern gab
es im Hotel Prag Sechs-Bett-Zimmer, in denen die kleinen von den
großen schikaniert wurden. Leider war keiner da, der sich
solcher Kinder annahm. Ich sah Rudolf immer nur kurz während
der Schulpausen, und auch da konnte er sich natürlich nicht
bei seiner Schwester „ausweinen“, denn das hätte
ihm noch mehr Minus-Punkte bei seinen Klassenkameraden eingebracht.
Oft hatten wir zu unterschiedlichen Stunden Freizeit, so dass es
lange dauerte, bis ich merkte, wie schlecht es ihm ging. Zum Glück
war ich bei den Jungen meiner Klasse beliebt, und konnte Rudolf
dadurch helfen, indem sich diese zwei Jahre älteren Jungen
verstärkt seiner annahmen und ihm das Leben etwas erleichterten.
Auch in unserem „Lager“, denn von „Hotel“
sprachen wir natürlich nicht, litten mehrere Mädchen unter
Heimweh. Es waren noch keine 4 Wochen in Babylon vergangen, als
unsere Leiterin, Fräulein Solwig, nach dem Mittagessen allen
verkündete, dass einige von uns ganz schlimme Nachrichten über
unser Lager nach Hause berichtet hätten. „Wir sitzen
hungernd und frierend auf der Bettkante“ soll es u.a. gelautet
haben, und die Eltern in Hamburg seien alle sehr beunruhigt. So
etwas sei „Verrat und Verleumdung“ und könne nicht
länger geduldet werden. Damit so etwas nicht wieder vorkomme,
wurde angeordnet, dass wir die Briefe nach Hause nicht mehr verschließen
durften, damit die Lehrerinnen sie zensieren könnten. Wir waren
alle sehr wütend, aber konnten selbstverständlich nichts
daran ändern. Es gab in Babylon keine Post und auch keinen
Briefkasten, in dem man die Post hätte heimlich einstecken
können.
Das bevorstehende Weihnachtsfest lenkte uns jedoch zunächst
von den Problemen ab. Wir schickten unsere Wunschzettel nach Hause,
bastelten Geschenke für Eltern und Geschwister und schrieben
Weihnachtsbriefe.
Mit dem Lied „Hohe Nacht der klaren Sterne“ zogen wir
am Heiligenabend in den festlich geschmückten Tagesraum ein.
Vor der Bühne standen zwei Tannenbäume und auf den Tischen
brannten Kerzen. An jedem Platz stand ein Weihnachtsteller mit Süßigkeiten,
einem Spiel und einem Buch. Die größte Freude waren die
Pakete von Zuhause, die sich unter unseren Plätzen stapelten.
Nicht nur die Eltern, sondern auch Verwandte, Freunde und Nachbarn
hatten an uns gedacht. Wir sangen viele Weihnachtslieder, vor allem
die neuen, die nichts Christliches enthielten. Dazu passt auch,
dass wir nicht die Weihnachtsgeschichte hörten, sonder mit
der Theatergruppe das Märchen „Rumpelstilzchen“
aufführten.
Natürlich gingen meine Gedanken an die bisher verlebten Weihnachten
zu Hause, aber es herrschte ein so großer Trubel, dass wir
gar nicht Zeit hatten, traurig zu sein. Es dauerte lange, bis wir
alle Pakete ausgepackt hatten, und dann gingen wir umher, um auch
die Geschenke unserer Freundinnen anzusehen. Es gab ein besonders
gutes Essen, und wir durften lange aufbleiben. Wer Brüder im
Hotel Prag hatte, durfte sie am 1. Weihnachtstag besuchen, und so
hörte ich von Rudolf, dass ihre Weihnachtsfeier wie bei uns
verlaufen war. Er hatte auch viele Pakete und Päckchen bekommen
und hat bestimmt Heimweh gehabt.
Wie schon erwähnt, kam meine Mutter im Januar 1941 nach Babylon.
Sie hatte uns von diesem Vorsatz nichts geschrieben. Unser Vater
war seit dem Frühjahr 1940 in Goslar kriegsverpflichtet, wir
beide Kinder waren in Babylon. Ich kann mir vorstellen, wie es ihr
im Alter von 42 Jahren allein im Hause in Niendorf zumute war. Ich
war zunächst nicht sehr froh, als meine Mutter plötzlich
in Babylon auftauchte: Ein Gefühl, dass jeder kennt, wenn die
Mutter einer Mitschülerin eine Klassenreise begleitet. Gerade
hatte ich in meiner Klasse fußgefaßt und hatte bewiesen,
dass ich nicht nur „fromm“ und „artig“ war,
und eine gewisse Führungsrolle erreicht. Da kam meine Mutter,
und sie sah allerhand Missstände, die sie zu unserem Wohl zu
ändern versuchte. Die Schwierigkeiten für mich entstanden
dadurch, das meine Freundinnen erwarteten, dass ich über meine
Mutter Vorteile für uns bei den Lehrerinnen erwirken könne,
oder sie behaupteten, ich hätte „gepetzt“, wenn
unsere Streiche bekannt wurden. Da meine Mutter die Probleme erkannte,
konnte sie mir helfen, und ich freute mich dann auch, dass sie in
Babylon war. Sie kümmerte sich besonders um die Kranken und
alle, die an Heimweh litten.
Rudolf lebte richtig auf, denn er konnte sie in seiner Freizeit
hin und wieder besuchen, und sie versuchte so oft wie möglich
mit einem Vorwand ins Hotel Prag zu kommen.
Außerdem war nach Wochen der über überstürzter
Evakuierung wieder „die gute deutsche Gründlichkeit“
gefragt, d.h. es mussten Bücher über Einnahmen und Ausgaben
geführt werden. Davon hatten unsere Lehrer wenig Ahnung, aber
Gottlob unsere Mutter, eine ausgebildete Buchhalterin. – Als
plötzlich durch eine Verfügung, auch noch Kinder unter
10 Jahren aus einer Volksschule in Eimsbüttel in unserem Lager
aufgenommen werden mussten, übernahm sie den Schulunterricht
und die Betreuung dieser kleinen, und zum Teil sehr heimatlosen
Kinder. Sie bekamen oft wochenlang keine Post, hatten nicht genügend
Wäsche und Schuhe.
Unser Tageslauf war streng organisiert. Morgens um 7 Uhr wurde mit
der „Quetschkommode“ (Ziehharmonika) geweckt, danach
hieß es: „Alle aufstehen und auf dem Flur antreten!“
Unser Hotel/Lager hatte drei Flure, und auf jedem gab es eine „Flurälteste“.
Sie meldete der Lager-Mannschaftsführerin: „Flur 3 mit
27 Mädchen angetreten, drei Krank.“ Diese antworte: „Guten
Morgen, Mädchen. Frühstück in 15 Minuten. Wegtreten.“
Inzwischen hatte der Frühstückdienst, der früher
geweckt worden war, das Frühstück vorbereitet. Danach
gingen wir in kleinen Gruppen ins Hotel Prag/Magda zur Schule. Der
Unterricht lief wie in Hamburg ab, aber es herrschte mehr Hilfsbereitschaft
untereinander. – Nach Rückkehr in unser Lager mussten
sich die Mädchen, die für den Tischdienst eingeteilt waren,
um das Essen kümmern, andere hatten Pflichten, wie Flurdienst,
d.h. Saubermachen, andere „Klodienst“ etc… Sehr
beliebt war am Nachmittag der „Postdienst“, denn da
ging man in kleiner Gruppe von Babylon nach Kubitzen, um unsere
Briefe hinzubringen und Post für uns abzuholen. Eine Führerin
ging meistens mit, aber manchmal konnten wir auch mit einer älteren
Schülerin gehen.
Die Post wird aus Kubitzen abgeholt.
Nach dem Mittagessen hatten wir eine Freistunde,
die wir nur zu gern zum Besuch des „Zuckerbäckers“
nutzten. Es gab dort herrliche Kuchen und Leckereien, aber unser
Taschengeld reichte höchstens für einen Besuch pro Woche.
Die Schularbeitenstunde fand im großen Saal statt, im Tagesraum.
An langen Tischen arbeiteten wir schnell und konzentriert, halfen
den schwachen Schülern, denn wir wollten alle gern an den Nachmittagsveranstaltungen
teilnehmen.
Diese wurden, wie erwähnt, von unseren Führerinnen organisiert.
Wir konnten singen, basteln, Theaterspielen etc. . Außer mir
spielte noch ein anderes Mädchen Akkordeon: das war die einzige
Musik, die wir hatten. Dazu wurden Volkstänze einstudiert und
besonders viel gesungen. Ein Radio gab es nur im Tagesraum für
besondere Nachrichten, aber nicht um Musik zu hören. Das Singen
wurde besonders gepflegt. Wenn wir eine gemeinsame Veranstaltung
hatten, zogen wir singend durch den Ort. Ich kann mir sagen, dass
ich aus dieser Zeit die meisten deutschen Volkslieder kenne. Einmal
in der Woche war „Schreibstunde“, um Briefe zu schreiben,
was wir aber auch in der Freizeit tun konnten. Wichtig war die „Stopf-
und Flickstunde“, denn wir mussten unsere Strümpfe selbst
stopfen, Knöpfe annähen etc. .
Hier werden die Briefe an die Eltern in der Heimat
geschrieben.
Wöchentlich- manchmal auch überraschend-
fand ein sogenannter „Zimmerappell“ statt. Zur angekündigten
Uhrzeit mussten wir alle in unseren Zimmern sein, und die Führerinnen
kontrollierten, ob die betten richtig gemacht, die Waschbecken geputzt,
die Fußböden sauber und die Schränke ordentlich
aufgeräumt waren.
Um 19 Uhr gab es Abendessen, wieder vorbereitet vom Tischdienst,
der auch hinterher alles abwaschen und abtrocknen musste.
Ganz wichtig und sehnlichst erwartet war das Austeilen der Post
nach dem Abendessen. Alle hofften auf Briefe oder Päckchen
von Zuhause. Viele von uns hatten Väter und Brüder an
der Front, und zum Glück war in dieser zeit 1940/41 noch keiner
aus unserem Lager vom Tod der Väter und Brüder betroffen.
Auch fanden in der ganzen Zeit keine schweren Bombenangriffe auf
Hamburg statt. Doch 1943 und zum Ende des Krieges muss es schlimm
gewesen sein, wenn man den Kindern die Nachricht übermitteln
musste, dass durch die Luftangriffe ihr Zuhause zerstört oder
sogar die Mutter und Geschwister zu Tode gekommen seien.
Bis zur Bettruhe um 20 Uhr konnten wir spielen, lesen oder basteln.
Wir versuchten natürlich im Bett noch zu lesen uns gegenseitig
auf den Zimmern zu besuchen oder etwas zu erzählen. Aber die
drei Führerinnen kontrollierten jede ihren Flur, und wenn sie
uns erwischten, gab es die schon erwähnten Strafen wie „Klo-Dienst“,
Flursaubermachen, Treppenputzen etc., oder wir mussten eine Strafarbeit
schreiben mit dem Thema „Disziplin im KLV-Lager“.
Nach einigen Wochen hatte sich alles gut eingependelt und wurde
immer besser organisiert. Der Betrieb war dann sicher normalen Internaten
vergleichbar.
Im Gegensatz zum Internat, in dem die Kinder genau wissen, wie lange
sie dort bleiben und wann die nächsten Ferien sind, um nach
Hause zu fahren, war es für uns ein großes Problem, dass
wir nicht wussten, wie lange wir in Babylon bleiben mussten. Von
Zuhause sprachen wir sehr viel, auch wenn wir glaubten, kein Heimweh
zu haben.
Der Winter im Böhmerwald war sehr lang und schneereich. Wir
spielten viele Nachmittage im Schnee, rodelten, glitschten und bauten
Höhlen und Schneemänner. Im Nachbarort Chodenschloß
konnte man für 20.- Mark Skier kaufen, und einige von uns bekamen
von ihren Eltern das Geld dafür, so dass wir Hamburger sogar
Skilaufen lernten. Einige Male holten uns deutsche Soldaten, die
in Taus stationiert waren, zu einer Schlittenfahrt ab.
Ein Wintervergnügen mit Skilaufen für
die Schülerinnen.
Eine intensive Erinnerung habe ich an die vielen
Himmelsschlüsselchen, die im Frühjahr auf allen Wiesen
blühten. Leider war es uns Mädchen verboten, ohne Führung
in den Wald zu gehen. Wir sollten nur im Ort bleiben. Dieses Gebot
haben wir oft nicht befolgt und sind heimlich losgezogen.
Voller Stolz präsentieren die Mädchen
ihre Blumen.
Ostern kam unser Vater aus Goslar zu Besuch und
wohnte während der Tage mit unserer Mutter im Hotel „Bomann“,
dem einzigen Hotel im Ort, das nicht beschlagnahmt war. Rudolf und
ich durften die Nachmittage mit unseren Eltern verbringen, und wir
unternahmen Wanderungen in der Umgebung.
Unser Schulleiter, Herr Reese, hatte im April die Idee, unserer
Klasse „Tanzstunde“ zu geben. Im Hotel Bomann war der
große Saal einmal in der Woche für uns reserviert, und
wir lernten unter seiner Anleitung, Walzer und Foxtrott zu tanzen.
Es war jedes Mal für uns eine große Frage, wer von wem
aufgefordert wurde. Briefe mit der Frage „An oder ab von …“
gingen hin und her. Unsere Lehrerinnen waren von dieser Art Freizeit
nicht sehr angetan, und so genügte ein kleiner Vorfall, und
die von uns so geliebte Tanzstunde wurde verboten.
Im Sommer sind wir fast täglich zum Schwimmen gegangen. Herr
Reese war ein engagierter Schwimmlehrer und hatte den Ehrgeiz, dass
alle Schülerinnen und Schüler als „Freischwimmer“
aus Babylon zurückkommen sollten. Diejenigen, die schon schwimmen
konnten, und 13 Jahre alt waren, sollten den Grundschein der DLRG
(Deutsche Lebensrettungsgesellschaft) machen. Davon war auch ich
betroffen und schaffte es tatsächlich. Probleme gab es beim
„Retten“, da beide Schwimmer mit Kleidung (Schlafanzug)
im Wasser sein mussten. Beim Ausziehen des Retters versank manche
Pyjama-Hose im See. Es ist mir bis heute ein Rätsel, dass keiner
beim 17-m-Streckentauchen entlang des Pontons vom Kurs abgekommen
und unter den Ponton geraten und ertrunken ist. Der große
See in Babylon ist ein Natursee mit moorigem Wasser. (Im Winter
hatten sich die Jungen unserer Schule auf den Eisschollen vergnügt-
ein Wunder, dass auch dabei keiner ertrunken ist.)
Badevergnügen in Babylon.
Viele Freizeitaktivitäten fanden jetzt im
Freien statt. Ständig übten wir neue Volkstänze ein
und spielten Theaterstücke und Scharaden. Auf dem Dach der
dem Hotel vorgebauten Garagen konnten wir Schularbeiten machen,
lesen oder uns sonnen. Hinter dem Hotel war eine große Wiese,
auf der wir Völkerball und Brennball spielten. Anderen Sportunterricht
hatten wir nicht. Wir machten- besonders in den großen Ferien-
Wanderung in der Umgebung. Wir bestiegen die „Schwarzkoppe“,
den höchsten Berg der Umgebung und nach einer Bahnfahrt bis
Furth im Wald den „Hohen Bogen“. Einen Fußmarsch
nach Furth mussten alle KLV-Lager-Kinder machen, um den Fi, „Jud
Süß“ anzusehen. (Zwei Stunden hin und zwei zurück).
Während unseres fast einjährigen Aufenthalts gab es auch
einige von uns, die erkrankten und nach Hamburg zurückgeschickt
wurden. Im Mai bekamen wir sogar eine „Schwester Erna“,
die von nun an bei gesundheitlichen Problemen für uns sorgen
musste.
Freundinnen Ilse Töllke und Gertrud Stahmer.
Meine Freundin Ilse erkrankte im Sommer an hohem
Fieber und starken Gliederschmerzen und kam in ein Krankenzimmer.
Aus Angst vor Ansteckung durfte sie keiner besuchen, und das Essen
wurde vor die Tür gestellt. Sie hat schlimme Wochen- von uns
isoliert- verlebt. In Hamburg stellte man später Gelenkrheumatismus
fest, aber das war damals- für Jugendliche- eine noch wenig
bekannte Krankheit.
Nach wie vor fragten wir immer wieder: „Wann können wir
endlich nach Hause fahren?“ Trotz vieler Unternehmungen, besonders
in den großen Ferien, wurde unsere Sehnsucht größer.
Dann endlich hieß es am 3. September: Am 12. September geht
es zurück nach Hamburg.
Wir packten viele Pakete, um unsere Sachen nach Hause zu schicken,
denn der mitgebrachte Koffer war viel zu klein. – Beim letzten
Besuch in Taus kauften wir uns ein Poesie-Album und jeder trug einen
Spruch ein. Wir wanderten nach Chodenschloß und Klentsch und
brachten von dort hübsche Vasen und kleine bemalte Schalen
als Andenken mit.
Die Heimkehr am 12. Sept. 1941 nach Hamburg.
Wieder wurde ein Sonderzug eingesetzt, der von
den Jungen mit Kreide beschriftet wurde: „KLV hat Ruh“
„Hummel-Hummel“ „Hamburg_Babylon“ etc.,
und ich schrieb in meinem Tagebuch: „Nun fahren wir durch
Hamburg. Wir winken tüchtig und alle Leute winken zurück,
mit Taschentüchern oder Handtüchern. Es ist 9 Uhr als
wir in Hamburg ankommen. Hurra, jetzt sind wir wieder in der Heimat.
Jetzt hat sich erfüllt, was wir immer sangen: „In der
Heimat, in der Heimat, da gibt’s ein Wiedersehen.“
Die Kinder-Land-Verschickung hielt bis zum Ende
des Krieges 1945 an. Besonders nach den Bombenangriffen auf Hamburg
im Sommer 1943 als viele Menschen zu Tode gekommen waren und wegen
der Zerstörung der Schulen kein Unterricht mehr stattfand,
sahen die Eltern die Notwendigkeit ein, ihre Kinder in Sicherheit
zu wissen.- Das traf für alle deutschen Großstädte
zu. Zum Ende des Krieges gab es in den meisten Fällen keinen
geordneten Transport nach Hause. Die Lager wurden aufgelöst,
die Züge verkehrten kaum noch, und so machten sich viele Kinder
allein oder in Gruppen auf den Weg. Sie wurden zum Teil von den
amerikanischen oder russischen Truppen eingeholt. Der Krieg war
beendet, und es herrschte ein Chaos im ganzen Land. Einige Kinder
sind erst nach Wochen in ihrer oft zerstörten Heimat angekommen.
Gertrud Hufnagel, geb. Stahmer
Schülerin der Niendorfer Mittelschule von 1940-1943
Das Schnelsen-Archiv dankt Frau Hufnagel recht herzlich
für die Zusammenfassung Ihrer Erlebnisse und Eindrücke
aus dieser Zeit.
Hamburg, den 26. Dez. 2008
(c) Schnelsen Archiv |