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Augenzeugenberichte

Kinderlandverschickung 1940-1941

Kinder-Land-Verschickung (KLV)
vom 30. Oktober 1940 – 13. September 1941.
Lokstedter, Niendorfer und Schnelsener Schüler in Babylon-Tschechoslowakei.

Im Herbst 1940 wurde zuerst davon gemunkelt, dann verstärkten sich die Gerüchte, und zuletzt wurde es offiziell bekannt gegeben: Die Kinder sollten aus den bombengefährdeten Gebiet evakuiert werden. Ich erinnere mich noch an die ersten Berichte, dass die ganze Niendorfer Schule nach Bayern verlagert werden solle, genau wie alle anderen Hamburger Schulen. Die Eltern konnten es gar nicht glauben – das heißt, in den meisten Fällen waren die Mütter davon betroffen, denn die Väter waren Soldat oder, wie mein Vater, kriegsverpflichtet-, aber dann wurde es sehr schnell ernst, und die Evakuierung der Hamburger Schulkinder lief in einem Zeitraum von vier Wochen ab. Den Eltern wurde mitgeteilt, dass die Gefährdung ihrer Kinder durch englische Bomber täglich zunähme, und dass der „Führer“ angeordnet habe, dass alle deutschen Kinder aus den Großstädten nach Süddeutschland oder Österreich, ins Sudetenland oder auch Ungarn in Sicherheit gebracht werden sollten. Es war zunächst nur von einem Zeitraum von vier bis sechs Wochen die Rede, denn bis dahin hoffte man, den Krieg beendet zu haben. Es wurde den Eltern vor allen Dingen klargemacht, welche Verantwortung sie übernähmen, wenn sie die Kinder in den Großstädten ließen, und dass in Hamburg keine Gewähr mehr für einen normalen Schulunterricht gegeben sei.

Ich war mit meinen 12 ½ Jahren begeistert von der Idee, in einer Art Internat zu leben. Ich hatte ein sehr schönes Elternhaus, aber diese Tatsache war für mich eine Selbstverständlichkeit. Von unglücklichen Kindern, geschiedenen Ehen, Problemen in Familien, hatte ich bis dahin wenig Ahnung. Ich hatte in vielen Büchern von so fröhlichen Internatserlebnissen gelesen, dass ich mir nichts Besseres denken konnte, als mit meinen Klassenkameradinnen einige Wochen zusammen zu leben. Verstärkt wurde dieser Wunsch sicher auch dadurch, dass wir täglich im Unterbewusstsein im Gemeinschaftssinn geschult wurden: Die „Klassengemeinschaft“, die „Volksgemeinschaft“, die Schicksalsgemeinschaft“, die „Notgemeinschaft“ etc. waren Schlagworte, die wir ständig hörten. Ich freute mich riesig auf die Fahrt nach „Babylon“, ein Name der mir durch die Bibel vertraut war. Wir hörten bald, dass es ein Ort im Sudetenland sei, im Böhmerwald, in der früheren Tschechoslowakei.

Rudolf, mein Bruder, 10 ½ Jahre alt, der die gleiche Schule besuchte wie ich, war von dieser Reise ebenso betroffen. Er hatte sich durch meine Begeisterung anstecken lassen und fuhr ganz frohgemut mit.

Abfahrt am 30. Okt. 1940 in Richtung Babylon.

Am 30. Oktober verließ der Sonderzug den Bahnhof Altona, und die Reise dauerte 22 Stunden. Ich weiß das so genau, weil wir danach einen Aufsatz mit dem Titel: „Meine erste Reise über 22 Stunden“ schreiben mussten, womit unsere Lehrer zur damaligen Zeit voraussetzten, dass noch keiner von uns bis dahin eine längere Reise unternommen hatte.

Eine Identifizierungskarte für die Hin- und Rückfahrt nach Babylon.

An diese Fahrt habe ich sehr lebhafte Erinnerungen. Bis dahin hatte ich meine Klassenkameradinnen immer nur für wenige Stunden in der Schule erlebt, privat eigentlich nur in der Pause. Ich war erst seit April in dieser Schule (unterbrochen durch die großen Ferien). Nun saßen wir in einem Abteil zusammen und konnten stundenlang miteinander reden. Man sagte mir während der Fahrt, dass man mich sehr skeptisch beobachtet habe in dieser Zeit: einmal kam ich nicht aus Niendorf (meine Eltern hatten das Haus erst im Herbst 1938 gebaut), und besonders, weil ich katholisch war. Diese Tatsache hat mir sehr zu schaffen gemacht: wie gern wollte ich so sein wie alle anderen. (In Hamburg gab es zu dieser Zeit nur 8 % Katholiken, und mein Bruder Rudolf und ich waren damals die einzigen in der ganzen Schule.)
In der Mittelschule in Niendorf, in die ich nach Auflösung der katholischen Ursukinen-Schule ab April 1940 wechselte, wurden Mädchen und Jungen gemeinsam unterrichtet.
Das war in Hamburg zu der Zeit ungewöhnlich und nur dadurch erklärbar, dass Niendorf bis 1937 nicht zu Hamburg gehörte, und man diese Schulform der Mittelschule mit der Koedukation von Mädchen und Jungen auch nach der Eingemeindung in Groß-Hamburg beibehalten hatte.
Wenn wir Mädchen und Jungen auch in einer gemeinsamen Klasse unterrichtet wurden, so war es doch selbstverständlich, dass wir während der Reise und auch später bei der Unterbringung in Babylon getrennt waren. Ich kümmerte mich während der langen Fahrt natürlich darum, wie es meinem Bruder Rudolf erging, und ich erinnere mich, dass wir in dem endlos langen Zug guckten, wie es „unseren Jungs“ –d.h. den Jungen aus unserer Klasse (Ausdruck unserer Lehrerin, Frl. Solwig) – erging.
BABYLON war damals ein kleiner Ort in der Tschechoslowakei, nahe der deutschen Grenze, der ca. 100 Einwohner zählte. Babylon liegt mitten im Böhmerwald, in einer wunderschönen Gegend, dem Harz oder Schwarzwald vergleichbar. Er verdankt seinen Ruf als „Badeort“ einem Natursee, und es gab dadurch viele Hotels und Pensionen.



Das Hotel Belvedere in Babylon

Wir wussten von alledem gar nichts, als wir am 31. Oktober 1940, nachdem der lange Zug der KLV, der Kinder-Land-Verschickung, überall aufgeteilt, schließlich in Babylon eintraf. Alle großen Hotels: Hotel Prag, Hotel Magda, Hotel Belvedere waren für die Evakuierung der deutschen Kinder beschlagnahmt worden. Auch kleinere Hotels und Pensionen waren mit deutschen Kindern belegt, so dass in jenen Jahren sicher mehr als 300 deutsche Kinder in Babylon lebten.
Es gab nur eine deutsche Familie, den Kaufmann, in der Mitte des Ortes. Alle anderen Einwohner waren Tschechen, mit denen wir keinerlei Kontakt hatten. Erst viele Jahre später wurde mir bewusst, wie die Menschen dort es wohl empfunden haben mussten, als ständig deutsche Kinder durch ihren Ort zogen. Wobei das „Durch-den-Ort-ziehen“ wörtlich zu nehmen ist: Auf dem Weg zur Schule oder in der Freizeit gingen wir in kleineren Gruppen, aber oft zogen wir singend- dann in Uniform mit der Fahne voran- durch Babylon.


Eine singende Mädchengruppe zieht durch den Ort Babylon.

Die Hotels waren auf reinen Sommerbetrieb eingerichtet und daraus ergab sich- da es November war- die ersten Schwierigkeiten, denn die Zimmer waren nicht beheizbar. Die ganze Aktion der Evakuierung der Kinder aus den Großstädten war völlig überstürzt angelaufen, und die Probleme häuften sich. In den Zimmern wurden Kanonen-Öfen aufgestellt, die wir selbst heizen mussten.
Wir Mädchen waren im Hotel Belvedere untergebracht, die Jungen unserer Schule im Hotel Prag. Vier Klassen waren von dieser Kinderlandverschickung betroffen, ca. 60 Jungen und 60 Mädchen. Rudolf war in der Klasse 1, ich in der Klasse 3. Der Schulunterricht fand nach wie vor für uns gemeinsam statt, und zwar im Hotel Prag, auch im Hotel Magda, das direkt neben dem Hotel Prag lag. Aus unserer Niendorfer Schule waren vier Lehrer mitgefahren. Ich nehme an, dass es so eine Art „Zwangsverschickung“ für die Lehrer war. Viele andere Lehrer waren Soldat, viele Lehrerinnen mussten in den neuen deutschen Ostgebieten Dienst tun, so dass unseren Lehrern sicher keine andere Wahl blieb, als die Kinderlandverschickung mitzumachen. Das Problem lag darin, dass die Lehrer bis dahin für den Schulunterricht zuständig gewesen waren, und nun sollten sie plötzlich in der KLV eine Art Internat führen.
Unser Schulleiter, Herr Reese, war im Hotel Prag, wir waren mit drei Lehrerinnen aus der Niendorfer Schule im Hotel Belvedere. Von den drei Lehrerinnen waren zwei unverheiratet, sie hatten von Familienproblemen wenig Ahnung, und die jüngste, Frau Ebmeyer, war zwar verheiratet, aber ihr Mann war irgendwo in Afrika interniert, und sie war sicher mit ihren Gedanken und Interessen oft mehr bei ihm als bei uns. Keine von ihnen war „mütterlich“ im Umgang mit uns.
Zurück zu den Problemen, die sich zunächst ergaben: in die Doppelzimmer des Hotels war noch ein drittes Bett gestellt worden, und wir durften die Zimmer mit den Freundinnen aus unserer Klasse teilen. Es ergab sich aber sehr schnell, dass die Mädchen aus der ersten Klasse, 10 Jahre alt, allein nicht zurechtkamen.
Sie sollten- wie wir- für Ordnung sorgen, die Zimmer saubermachen und auch die Kanonenöfen heizen. So wurde angeordnet, dass immer eine ältere Schülerin sich um eine oder zwei jüngere kümmern und mit diesen das Zimmer teilen musste.
Darüber waren wir zwar sehr erbost, aber natürlich nur, wenn wir unter uns waren, denn den Anordnungen der „Lagerleitung“ hatten wir unbedingt zu folgen. Das Gehorchen waren wir von klein an gewöhnt, und der dauernde Hinweis auf unsere armen Soldaten an der Front, ließ keinerlei Kritik zu.
Nach einiger Zeit ergab es sich, dass wir alle keine saubere Wäsche mehr hatten. War diese Evakuierung zunächst nur für einige Wochen gedacht, so sprach jetzt niemand mehr davon, und es sah so aus, als ob wir noch lange Zeit in Babylon bleiben würden. So mussten sich unsere Lehrerinnen um eine Wäscherei kümmern, die unsere Sachen abholte und wusch. Vorher musste aber alles mit Namen gezeichnet werden- und das von 10-14 jährigen Kindern.
In jedem Zimmer befand sich ein Waschbecken (mit kaltem Wasser), aber nach einiger Zeit war eine gründliche Reinigung (mit Haare waschen) notwendig. So fuhren wir ungefähr alle 4 Wochen mit der ganzen Lagermannschaft per Bummelzug nach Taus (Domaslice), der nächst größeren Stadt zum Baden. Das war jedes Mal ein Festtag.
Womit sich unsere Lehrerinnen überhaupt nicht befasst hatten, war unsere Ernährung. Seit Anfang des Krieges gab es Lebensmittelkarten, denn die Lebensmittel waren rationiert, aber Kinder hatten damals recht gute Zuteilung, und die KLV-Lager bekamen noch Sonderkontingente. Das Essen in unserem Hotel Belvedere war jedoch schlecht.
Der Besitzer konnte das Hotel weiterhin privat führen- im Gegensatz zum Hotel Prag, das ein NSV- Betrieb, also staatlich war- und wirtschaftete sicher gut in seine Tasche. Die Ernährung wurde eigentlich erst besser, als meine Mutter im Januar in Babylon auftauchte und als- unbezahlte- Hilfe dort blieb. Über meine Gefühle schreibe ich später: Jetzt nur die Frage der Ernährung oder der Lebensmittelzuteilung. Meine Mutter stellte sofort fest, dass jedem Kind pro Tag ein halber Liter Milch zustand, eine bestimmte Menge an Butter, Fleisch, Gemüse, Obst etc., und dass wir diese Lebensmittel nicht erhielten. Sie musste das sehr vorsichtig anbringen, denn man hätte sie ja sofort wieder nach Hause schicken können: doch das Essen wurde nun merklich besser.
Ich habe die negativen Dinge damals gar nicht richtig wahrgenommen. Zwar froren wir die erste Zeit ohne Öfen in den Schlafzimmern, aber tagsüber waren wir unten im Tagesraum. Dass das Essen bei uns viel schlechter war als bei unseren Klassenkameraden im Hotel Prag, merkten wir, und „Unsre Jungs“ versorgten uns oft morgens, wenn wir zum Unterricht kamen, mit Haferflockensuppe und dicken Butterbroten, aber das dämpfte nicht das Hochgefühl, das ich empfand, in dieser Gemeinschaft zu leben.
Man kann das sicher nur nachempfinden, wenn man jetzt von Internatserlebnissen hört und liest. Mir bedeutete die Klassengemeinschaft damals alles, und zudem waren wir eine Klasse, die wie Pech und Schwefel zusammenhielt. Ich war jetzt voll angenommen, hatte viele Freundinnen und fühlte mich in Babylon sehr wohl.
Außer den drei Lehrerinnen, die den Schulunterricht am Vormittag erteilten, betreuten uns am Nachmittag zwei oder drei Jungmädelführerinnen im Alter von 16-18 Jahren. Sie waren vom Pflichtjahr oder Arbeitsdienst für diese Zeit freigestellt worden und hatten sich freiwillig gemeldet. Diese Führerinnen wechselten während der 11 Monate, die wir in Babylon waren, mehrfach, aber sie waren zum größten Teil begeisterte Führerinnen mit vielen Ideen. Das Singen, Basteln, Tanzen, Theaterspielen, Werken etc. habe ich in bester Erinnerung. Am Nachmittag- nach der „Schularbeitenstunde“, in der jeder jedem half,- wurden so viele Möglichkeiten geboten, etwas Interessantes zu tun, dass ich nie Langeweile empfunden habe. Dabei ist mir meine Mentalität zustattengekommen, da ich gern mit vielen Menschen zusammen bin. Leider ging es nicht allen so.
Damit komme ich auf das Problem der Heimwehkranken, der Stillen und der Kinder, die sich in der großen Gemeinschaft einfach nicht wohlfühlten. Sie haben in der KLV sehr gelitten, denn zu dieser zeit galt das Heroische. Wer Heimweh hatte, war ein „Schwächling“, und wir sollten und wollten alle „Helden“ sein.
Ich erlebte das ganz hautnah bei meinem Bruder Rudolf. Er war mit seinen 10 Jahren auf jeden Fall zu jung für dieses Lagerleben und war als sensibles Kind dem Umgangston in seinem Zimmer nicht gewachsen. Im Gegensatz zu unserem Hotel mit Drei-Bett-Zimmern gab es im Hotel Prag Sechs-Bett-Zimmer, in denen die kleinen von den großen schikaniert wurden. Leider war keiner da, der sich solcher Kinder annahm. Ich sah Rudolf immer nur kurz während der Schulpausen, und auch da konnte er sich natürlich nicht bei seiner Schwester „ausweinen“, denn das hätte ihm noch mehr Minus-Punkte bei seinen Klassenkameraden eingebracht. Oft hatten wir zu unterschiedlichen Stunden Freizeit, so dass es lange dauerte, bis ich merkte, wie schlecht es ihm ging. Zum Glück war ich bei den Jungen meiner Klasse beliebt, und konnte Rudolf dadurch helfen, indem sich diese zwei Jahre älteren Jungen verstärkt seiner annahmen und ihm das Leben etwas erleichterten.
Auch in unserem „Lager“, denn von „Hotel“ sprachen wir natürlich nicht, litten mehrere Mädchen unter Heimweh. Es waren noch keine 4 Wochen in Babylon vergangen, als unsere Leiterin, Fräulein Solwig, nach dem Mittagessen allen verkündete, dass einige von uns ganz schlimme Nachrichten über unser Lager nach Hause berichtet hätten. „Wir sitzen hungernd und frierend auf der Bettkante“ soll es u.a. gelautet haben, und die Eltern in Hamburg seien alle sehr beunruhigt. So etwas sei „Verrat und Verleumdung“ und könne nicht länger geduldet werden. Damit so etwas nicht wieder vorkomme, wurde angeordnet, dass wir die Briefe nach Hause nicht mehr verschließen durften, damit die Lehrerinnen sie zensieren könnten. Wir waren alle sehr wütend, aber konnten selbstverständlich nichts daran ändern. Es gab in Babylon keine Post und auch keinen Briefkasten, in dem man die Post hätte heimlich einstecken können.
Das bevorstehende Weihnachtsfest lenkte uns jedoch zunächst von den Problemen ab. Wir schickten unsere Wunschzettel nach Hause, bastelten Geschenke für Eltern und Geschwister und schrieben Weihnachtsbriefe.
Mit dem Lied „Hohe Nacht der klaren Sterne“ zogen wir am Heiligenabend in den festlich geschmückten Tagesraum ein. Vor der Bühne standen zwei Tannenbäume und auf den Tischen brannten Kerzen. An jedem Platz stand ein Weihnachtsteller mit Süßigkeiten, einem Spiel und einem Buch. Die größte Freude waren die Pakete von Zuhause, die sich unter unseren Plätzen stapelten. Nicht nur die Eltern, sondern auch Verwandte, Freunde und Nachbarn hatten an uns gedacht. Wir sangen viele Weihnachtslieder, vor allem die neuen, die nichts Christliches enthielten. Dazu passt auch, dass wir nicht die Weihnachtsgeschichte hörten, sonder mit der Theatergruppe das Märchen „Rumpelstilzchen“ aufführten.
Natürlich gingen meine Gedanken an die bisher verlebten Weihnachten zu Hause, aber es herrschte ein so großer Trubel, dass wir gar nicht Zeit hatten, traurig zu sein. Es dauerte lange, bis wir alle Pakete ausgepackt hatten, und dann gingen wir umher, um auch die Geschenke unserer Freundinnen anzusehen. Es gab ein besonders gutes Essen, und wir durften lange aufbleiben. Wer Brüder im Hotel Prag hatte, durfte sie am 1. Weihnachtstag besuchen, und so hörte ich von Rudolf, dass ihre Weihnachtsfeier wie bei uns verlaufen war. Er hatte auch viele Pakete und Päckchen bekommen und hat bestimmt Heimweh gehabt.
Wie schon erwähnt, kam meine Mutter im Januar 1941 nach Babylon. Sie hatte uns von diesem Vorsatz nichts geschrieben. Unser Vater war seit dem Frühjahr 1940 in Goslar kriegsverpflichtet, wir beide Kinder waren in Babylon. Ich kann mir vorstellen, wie es ihr im Alter von 42 Jahren allein im Hause in Niendorf zumute war. Ich war zunächst nicht sehr froh, als meine Mutter plötzlich in Babylon auftauchte: Ein Gefühl, dass jeder kennt, wenn die Mutter einer Mitschülerin eine Klassenreise begleitet. Gerade hatte ich in meiner Klasse fußgefaßt und hatte bewiesen, dass ich nicht nur „fromm“ und „artig“ war, und eine gewisse Führungsrolle erreicht. Da kam meine Mutter, und sie sah allerhand Missstände, die sie zu unserem Wohl zu ändern versuchte. Die Schwierigkeiten für mich entstanden dadurch, das meine Freundinnen erwarteten, dass ich über meine Mutter Vorteile für uns bei den Lehrerinnen erwirken könne, oder sie behaupteten, ich hätte „gepetzt“, wenn unsere Streiche bekannt wurden. Da meine Mutter die Probleme erkannte, konnte sie mir helfen, und ich freute mich dann auch, dass sie in Babylon war. Sie kümmerte sich besonders um die Kranken und alle, die an Heimweh litten.
Rudolf lebte richtig auf, denn er konnte sie in seiner Freizeit hin und wieder besuchen, und sie versuchte so oft wie möglich mit einem Vorwand ins Hotel Prag zu kommen.
Außerdem war nach Wochen der über überstürzter Evakuierung wieder „die gute deutsche Gründlichkeit“ gefragt, d.h. es mussten Bücher über Einnahmen und Ausgaben geführt werden. Davon hatten unsere Lehrer wenig Ahnung, aber Gottlob unsere Mutter, eine ausgebildete Buchhalterin. – Als plötzlich durch eine Verfügung, auch noch Kinder unter 10 Jahren aus einer Volksschule in Eimsbüttel in unserem Lager aufgenommen werden mussten, übernahm sie den Schulunterricht und die Betreuung dieser kleinen, und zum Teil sehr heimatlosen Kinder. Sie bekamen oft wochenlang keine Post, hatten nicht genügend Wäsche und Schuhe.
Unser Tageslauf war streng organisiert. Morgens um 7 Uhr wurde mit der „Quetschkommode“ (Ziehharmonika) geweckt, danach hieß es: „Alle aufstehen und auf dem Flur antreten!“ Unser Hotel/Lager hatte drei Flure, und auf jedem gab es eine „Flurälteste“. Sie meldete der Lager-Mannschaftsführerin: „Flur 3 mit 27 Mädchen angetreten, drei Krank.“ Diese antworte: „Guten Morgen, Mädchen. Frühstück in 15 Minuten. Wegtreten.“
Inzwischen hatte der Frühstückdienst, der früher geweckt worden war, das Frühstück vorbereitet. Danach gingen wir in kleinen Gruppen ins Hotel Prag/Magda zur Schule. Der Unterricht lief wie in Hamburg ab, aber es herrschte mehr Hilfsbereitschaft untereinander. – Nach Rückkehr in unser Lager mussten sich die Mädchen, die für den Tischdienst eingeteilt waren, um das Essen kümmern, andere hatten Pflichten, wie Flurdienst, d.h. Saubermachen, andere „Klodienst“ etc… Sehr beliebt war am Nachmittag der „Postdienst“, denn da ging man in kleiner Gruppe von Babylon nach Kubitzen, um unsere Briefe hinzubringen und Post für uns abzuholen. Eine Führerin ging meistens mit, aber manchmal konnten wir auch mit einer älteren Schülerin gehen.

Die Post wird aus Kubitzen abgeholt.

Nach dem Mittagessen hatten wir eine Freistunde, die wir nur zu gern zum Besuch des „Zuckerbäckers“ nutzten. Es gab dort herrliche Kuchen und Leckereien, aber unser Taschengeld reichte höchstens für einen Besuch pro Woche.
Die Schularbeitenstunde fand im großen Saal statt, im Tagesraum. An langen Tischen arbeiteten wir schnell und konzentriert, halfen den schwachen Schülern, denn wir wollten alle gern an den Nachmittagsveranstaltungen teilnehmen.
Diese wurden, wie erwähnt, von unseren Führerinnen organisiert. Wir konnten singen, basteln, Theaterspielen etc. . Außer mir spielte noch ein anderes Mädchen Akkordeon: das war die einzige Musik, die wir hatten. Dazu wurden Volkstänze einstudiert und besonders viel gesungen. Ein Radio gab es nur im Tagesraum für besondere Nachrichten, aber nicht um Musik zu hören. Das Singen wurde besonders gepflegt. Wenn wir eine gemeinsame Veranstaltung hatten, zogen wir singend durch den Ort. Ich kann mir sagen, dass ich aus dieser Zeit die meisten deutschen Volkslieder kenne. Einmal in der Woche war „Schreibstunde“, um Briefe zu schreiben, was wir aber auch in der Freizeit tun konnten. Wichtig war die „Stopf- und Flickstunde“, denn wir mussten unsere Strümpfe selbst stopfen, Knöpfe annähen etc. .

Hier werden die Briefe an die Eltern in der Heimat geschrieben.

Wöchentlich- manchmal auch überraschend- fand ein sogenannter „Zimmerappell“ statt. Zur angekündigten Uhrzeit mussten wir alle in unseren Zimmern sein, und die Führerinnen kontrollierten, ob die betten richtig gemacht, die Waschbecken geputzt, die Fußböden sauber und die Schränke ordentlich aufgeräumt waren.
Um 19 Uhr gab es Abendessen, wieder vorbereitet vom Tischdienst, der auch hinterher alles abwaschen und abtrocknen musste.
Ganz wichtig und sehnlichst erwartet war das Austeilen der Post nach dem Abendessen. Alle hofften auf Briefe oder Päckchen von Zuhause. Viele von uns hatten Väter und Brüder an der Front, und zum Glück war in dieser zeit 1940/41 noch keiner aus unserem Lager vom Tod der Väter und Brüder betroffen.
Auch fanden in der ganzen Zeit keine schweren Bombenangriffe auf Hamburg statt. Doch 1943 und zum Ende des Krieges muss es schlimm gewesen sein, wenn man den Kindern die Nachricht übermitteln musste, dass durch die Luftangriffe ihr Zuhause zerstört oder sogar die Mutter und Geschwister zu Tode gekommen seien.
Bis zur Bettruhe um 20 Uhr konnten wir spielen, lesen oder basteln. Wir versuchten natürlich im Bett noch zu lesen uns gegenseitig auf den Zimmern zu besuchen oder etwas zu erzählen. Aber die drei Führerinnen kontrollierten jede ihren Flur, und wenn sie uns erwischten, gab es die schon erwähnten Strafen wie „Klo-Dienst“, Flursaubermachen, Treppenputzen etc., oder wir mussten eine Strafarbeit schreiben mit dem Thema „Disziplin im KLV-Lager“.
Nach einigen Wochen hatte sich alles gut eingependelt und wurde immer besser organisiert. Der Betrieb war dann sicher normalen Internaten vergleichbar.
Im Gegensatz zum Internat, in dem die Kinder genau wissen, wie lange sie dort bleiben und wann die nächsten Ferien sind, um nach Hause zu fahren, war es für uns ein großes Problem, dass wir nicht wussten, wie lange wir in Babylon bleiben mussten. Von Zuhause sprachen wir sehr viel, auch wenn wir glaubten, kein Heimweh zu haben.
Der Winter im Böhmerwald war sehr lang und schneereich. Wir spielten viele Nachmittage im Schnee, rodelten, glitschten und bauten Höhlen und Schneemänner. Im Nachbarort Chodenschloß konnte man für 20.- Mark Skier kaufen, und einige von uns bekamen von ihren Eltern das Geld dafür, so dass wir Hamburger sogar Skilaufen lernten. Einige Male holten uns deutsche Soldaten, die in Taus stationiert waren, zu einer Schlittenfahrt ab.

Ein Wintervergnügen mit Skilaufen für die Schülerinnen.

Eine intensive Erinnerung habe ich an die vielen Himmelsschlüsselchen, die im Frühjahr auf allen Wiesen blühten. Leider war es uns Mädchen verboten, ohne Führung in den Wald zu gehen. Wir sollten nur im Ort bleiben. Dieses Gebot haben wir oft nicht befolgt und sind heimlich losgezogen.

Voller Stolz präsentieren die Mädchen ihre Blumen.

Ostern kam unser Vater aus Goslar zu Besuch und wohnte während der Tage mit unserer Mutter im Hotel „Bomann“, dem einzigen Hotel im Ort, das nicht beschlagnahmt war. Rudolf und ich durften die Nachmittage mit unseren Eltern verbringen, und wir unternahmen Wanderungen in der Umgebung.
Unser Schulleiter, Herr Reese, hatte im April die Idee, unserer Klasse „Tanzstunde“ zu geben. Im Hotel Bomann war der große Saal einmal in der Woche für uns reserviert, und wir lernten unter seiner Anleitung, Walzer und Foxtrott zu tanzen. Es war jedes Mal für uns eine große Frage, wer von wem aufgefordert wurde. Briefe mit der Frage „An oder ab von …“ gingen hin und her. Unsere Lehrerinnen waren von dieser Art Freizeit nicht sehr angetan, und so genügte ein kleiner Vorfall, und die von uns so geliebte Tanzstunde wurde verboten.
Im Sommer sind wir fast täglich zum Schwimmen gegangen. Herr Reese war ein engagierter Schwimmlehrer und hatte den Ehrgeiz, dass alle Schülerinnen und Schüler als „Freischwimmer“ aus Babylon zurückkommen sollten. Diejenigen, die schon schwimmen konnten, und 13 Jahre alt waren, sollten den Grundschein der DLRG (Deutsche Lebensrettungsgesellschaft) machen. Davon war auch ich betroffen und schaffte es tatsächlich. Probleme gab es beim „Retten“, da beide Schwimmer mit Kleidung (Schlafanzug) im Wasser sein mussten. Beim Ausziehen des Retters versank manche Pyjama-Hose im See. Es ist mir bis heute ein Rätsel, dass keiner beim 17-m-Streckentauchen entlang des Pontons vom Kurs abgekommen und unter den Ponton geraten und ertrunken ist. Der große See in Babylon ist ein Natursee mit moorigem Wasser. (Im Winter hatten sich die Jungen unserer Schule auf den Eisschollen vergnügt- ein Wunder, dass auch dabei keiner ertrunken ist.)

Badevergnügen in Babylon.

Viele Freizeitaktivitäten fanden jetzt im Freien statt. Ständig übten wir neue Volkstänze ein und spielten Theaterstücke und Scharaden. Auf dem Dach der dem Hotel vorgebauten Garagen konnten wir Schularbeiten machen, lesen oder uns sonnen. Hinter dem Hotel war eine große Wiese, auf der wir Völkerball und Brennball spielten. Anderen Sportunterricht hatten wir nicht. Wir machten- besonders in den großen Ferien- Wanderung in der Umgebung. Wir bestiegen die „Schwarzkoppe“, den höchsten Berg der Umgebung und nach einer Bahnfahrt bis Furth im Wald den „Hohen Bogen“. Einen Fußmarsch nach Furth mussten alle KLV-Lager-Kinder machen, um den Fi, „Jud Süß“ anzusehen. (Zwei Stunden hin und zwei zurück).
Während unseres fast einjährigen Aufenthalts gab es auch einige von uns, die erkrankten und nach Hamburg zurückgeschickt wurden. Im Mai bekamen wir sogar eine „Schwester Erna“, die von nun an bei gesundheitlichen Problemen für uns sorgen musste.

Freundinnen Ilse Töllke und Gertrud Stahmer.

Meine Freundin Ilse erkrankte im Sommer an hohem Fieber und starken Gliederschmerzen und kam in ein Krankenzimmer. Aus Angst vor Ansteckung durfte sie keiner besuchen, und das Essen wurde vor die Tür gestellt. Sie hat schlimme Wochen- von uns isoliert- verlebt. In Hamburg stellte man später Gelenkrheumatismus fest, aber das war damals- für Jugendliche- eine noch wenig bekannte Krankheit.
Nach wie vor fragten wir immer wieder: „Wann können wir endlich nach Hause fahren?“ Trotz vieler Unternehmungen, besonders in den großen Ferien, wurde unsere Sehnsucht größer. Dann endlich hieß es am 3. September: Am 12. September geht es zurück nach Hamburg.
Wir packten viele Pakete, um unsere Sachen nach Hause zu schicken, denn der mitgebrachte Koffer war viel zu klein. – Beim letzten Besuch in Taus kauften wir uns ein Poesie-Album und jeder trug einen Spruch ein. Wir wanderten nach Chodenschloß und Klentsch und brachten von dort hübsche Vasen und kleine bemalte Schalen als Andenken mit.


Die Heimkehr am 12. Sept. 1941 nach Hamburg.

Wieder wurde ein Sonderzug eingesetzt, der von den Jungen mit Kreide beschriftet wurde: „KLV hat Ruh“ „Hummel-Hummel“ „Hamburg_Babylon“ etc., und ich schrieb in meinem Tagebuch: „Nun fahren wir durch Hamburg. Wir winken tüchtig und alle Leute winken zurück, mit Taschentüchern oder Handtüchern. Es ist 9 Uhr als wir in Hamburg ankommen. Hurra, jetzt sind wir wieder in der Heimat. Jetzt hat sich erfüllt, was wir immer sangen: „In der Heimat, in der Heimat, da gibt’s ein Wiedersehen.“

Die Kinder-Land-Verschickung hielt bis zum Ende des Krieges 1945 an. Besonders nach den Bombenangriffen auf Hamburg im Sommer 1943 als viele Menschen zu Tode gekommen waren und wegen der Zerstörung der Schulen kein Unterricht mehr stattfand, sahen die Eltern die Notwendigkeit ein, ihre Kinder in Sicherheit zu wissen.- Das traf für alle deutschen Großstädte zu. Zum Ende des Krieges gab es in den meisten Fällen keinen geordneten Transport nach Hause. Die Lager wurden aufgelöst, die Züge verkehrten kaum noch, und so machten sich viele Kinder allein oder in Gruppen auf den Weg. Sie wurden zum Teil von den amerikanischen oder russischen Truppen eingeholt. Der Krieg war beendet, und es herrschte ein Chaos im ganzen Land. Einige Kinder sind erst nach Wochen in ihrer oft zerstörten Heimat angekommen.

Gertrud Hufnagel, geb. Stahmer
Schülerin der Niendorfer Mittelschule von 1940-1943

Das Schnelsen-Archiv dankt Frau Hufnagel recht herzlich für die Zusammenfassung Ihrer Erlebnisse und Eindrücke aus dieser Zeit.

Hamburg, den 26. Dez. 2008
(c) Schnelsen Archiv